Julio Cortázar
Fantomas gegen die multinationalen Vampire
„Aus Argentinien entfernte sich ein Schriftsteller, für den die
Wirklichkeit, wie Mallarmé es sich vorstellte, in einem Buch gipfeln
sollte; in Paris wurde ein Mann geboren, für den die Bücher in der
Wirklichkeit gipfeln sollten.“
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Diese Worte schrieb Julio Cortázar 1967 in einem Brief an seinen
Freund, den Dichter und Essayisten Roberto Fernández Retamar, in
Havanna. Sie veranschaulichen in komprimierter Form die
Entwicklung des großen, im Jahr 1914 geborenen argentinischen
Schriftstellers, der dem Regime des Populisten Juan Perón in
seinem Heimatland ablehnend gegenüberstand und dieses in den
Fünfzigerjahren in Richtung Frankreich verließ. Mit zunehmendem
Alter rückten Fragen der Ethik verstärkt in den Mittelpunkt von
Cortázars Schaffen. Er wandte sich intensiver der Politik zu,
unterstützte die kubanische Revolution, engagierte sich für
diverse linksgerichtete Gruppierungen in Lateinamerika und
reiste 1979 nach Nicaragua, um sich für die sandinistische
Regierung einzusetzen. In den Siebzigerjahren nahm er auch am
II.
Russell-Tribunal teil, das ihn zu der Erzählung Fantomas
gegen die multinationalen Vampire veranlassen sollte. |
Hatte sich das I. Russell-Tribunal (1966), geführt von den
Philosophen Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre, gegen die
Gewaltakte der US-amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg gerichtet,
so galt es im II. Russell-Tribunal (1974, 1975 und 1976) unter dem
Vorsitz des italienischen Senators Lelio Basso, die systematische
Verletzung der Menschenrechte durch diverse Regimes in Lateinamerika
aufzuzeigen.
Julio Cortázar wollte die Arbeit und die Ergebnisse dieses Tribunals
einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln und bediente sich dazu
eines originellen Kunstgriffs: Er verpackte das ernste politische
Thema in eine Erzählung rund um einen Comic-Superhelden. Der
Auslöser für diese Idee war folgender: Julio Cortázar hatte die
mexikanische Ausgabe eines Fantomas-Heftchens in die Hände
bekommen, in dem der Argentinier selbst und andere Schriftsteller
als Figuren vorkamen. Es handelte sich dabei genauer gesagt um eine
im Anhang des Heftes abgedruckte Bonus-Geschichte, Intelligenz in
Flammen, in der eine unbekannte Macht sämtliche Bücher aus den
Bibliotheken in aller Welt verschwinden lässt. Der Superheld
Fantomas verbündet sich daraufhin mit den Schriftstellern, die von
jener Macht unter Druck gesetzt werden, nichts mehr zu
veröffentlichen. |
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Ebenso wie er Teil dieses Comics wurde, verwendete Cortázar in
weiterer Folge im Jahr 1975 Ausschnitte davon für seine eigene
Erzählung Fantomas contra los vampiros multinacionales. Die
Figur des Fantomas hatte sich allerdings seit ihrer Erfindung durch
die Franzosen Pierre Souvestre und Marcel Allain im Jahr 1911 in
charakterlicher Hinsicht grundlegend verändert. Während der
mysteriöse Mann mit der weißen Maske damals noch als skrupelloser
Schurke sein Unwesen trieb, bekam er später durch den mexikanischen
Verlag Novaro ein neues Image verpasst, das dem eines Robin Hood
gleicht, einem Beschützer der Unterdrückten und Armen. Diese Figur
ließ sich wunderbar für Cortázars Zwecke einsetzen.
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In
seiner Erzählung begibt sich der Ich-Erzähler, bei dem es sich, wie
unschwer zu erkennen ist, um niemand anderen als den argentinischen
Schriftsteller selbst handelt, auf die Heimreise nach Paris, nachdem
er soeben dem II. Russell-Tribunal in Brüssel beigewohnt hat, und
kauft am Bahnhof ein Comic-Heft, das ihm auf bizarre Weise in die
Hände fällt. Die Geschichte, die er im Zug zu lesen beginnt und die
sich wie erwähnt um das rätselhafte Verschwinden der Bücher aus den
Bibliotheken in aller Welt dreht, verbindet sich nach und nach mit
den Geschehnissen im Zug und im Weiteren in Paris, wobei die Grenzen
zwischen literarischer Wirklichkeit und Fiktion immer mehr
verschwimmen. |
Geschickt verwebt Cortázar nun seine politische Anklage mit der
amüsanten Bildergeschichte und bastelt eine neue Handlung rund
um Fantomas, die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag
und sich selbst, wobei er auch nicht an Selbstironie spart. Er
verwendet Comic-Bildchen, Zeitungsausschnitte, Infografiken,
Collagen und weiteres Bildmaterial, um den Leser anzuregen und
ihn auf imaginativer ebenso wie auf politischer Ebene
wachzurütteln. |
Durch die Verwendung der Bilder einerseits und den unvermittelten
Einbruch des Wundersamen in die Alltagswirklichkeit andererseits,
der ebenso einen wesentlichen Zug des Werks von Julio Cortázar
darstellt (er entwickelte dazu seine sogenannte Tunnel-Theorie),
gelingt es dem Autor leichter, mit seiner Fantomas-Erzählung dem
Leser den politischen Kontext näherzubringen, als dies mit einem
rundum realistischen, „trockenen“ Text möglich gewesen wäre.
Je
weiter der Text voranschreitet, desto stärker rücken die moralischen
Fragen in den Vordergrund. Fantomas, der Superheld, erfährt auf der
Suche nach den Drahtziehern der Büchervernichtung, mit der die
Unterdrückung der Meinungsfreiheit thematisiert wird, dass die
wahren Übeltäter und Verantwortlichen für die weltweiten Missstände
in den multinationalen Gesellschaften, den Geheimdiensten und den
korrupten Regierungen sitzen.
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